Immer wieder skandieren komische Menschen bei komischen Veranstaltungen neben anderen Unsinn auch immer wieder die Losung Lügenpresse. Das wirkt im ersten Moment weit hergeholt in unserer Demokratie, welche äußerst große Freiheiten in der Äußerung von Meinungen und Aussagen zulässt. Doch vielleicht ist etwas dran an dieser Meinung, die häufig als Unsinn und unwahr hingestellt wird.
Hier ein trefflich diskutierbares Beispiel, was den Autor bewog diesen Blog zu eröffnen.
Der Autor stolperte über einen Bericht der Wirtschaftswoche WIWO mit dem Titel Halberstadt, die einzige Mittelstadt Deutschlands die wächst, von Kristina Antonia Schäfer veröffentlicht am 16. September 2019.
Erst war der Schreiber völlig verwirrt und recherchierte erst einmal gründlich ob es weitere Ort mit dem Namen Halberstadt gibt, doch verrückterweise gibt es in der Tat nur ein Halberstadt.
Selbstverständlich ist der „wertvolle“ Artikel versteckt hinter einer Bezahlschranke.
Was gut ist, so etwas journalistisch wertvolles muss ja was kosten und deshalb wurde der Artikel auch mehrfach von anderen Medien, Print und Online übernommen. Anscheinend ohne diesen zu hinterfragen und auf seinen Wahrheitsgehalt und Belastbarkeit hinsichtlich seines Tenors zu überprüfen.
Zufällig kommt der Autor dieses Kommentares aus dieser völlig heruntergekommen Stadt und hat das ganze Elend des Niedergangs dieser Stadt seit 1990 miterlebt und war entsprechend verwundert über diesen Bericht. Immer vor Augen, die geschäftsfreien Straßenzüge, den Abriß eines erst 1990 fertiggestellten Neubaugebietes für einige tausend Bewohner. Die offensichtliche Entvölkerung und Deindustrialisierung der Stadt deutlich vor Augen. Wissend das Halberstadt damit nicht allein steht, jedoch ein mehr als exemplarisches Beispiel ist.
Bemerkenswerter Weise kommt hinzu, das zumindest in der Volksstimme eine Verwunderung bei Befragten festgestellt wird, wie diese Information zustande kommt, jedoch ohne diese vertiefend zu hinterfragen, was angebracht wäre, wenn sich befragte Fachleute so äußern!
Das ist bedauerlich und sollte mit Argusaugen weiter beobachtet und kritisch kommentiert werden.
Das besondere ist, das die Daten auf die man sich beruft korrekt erhoben sind.
Es fehlt jedoch die Berücksichtigung der Änderungen der Fläche und Einwohnerzahl im Verlauf der Zeit und ein Vergleich mit der Situation vor Beginn des Statistikzeitraumes.
So lässt sich mit einer einfachen Suchmaschinenbenutzung bei der Recherche der weggefallenden Industriearbeitsplätze eine schöne Listung der gründlich arbeitenden Staatssicherheit (Stasi) finden
die aufzeigt wieviel Arbeitsplätze ab 1990 weggefallen sind. (4000 allein schon beim RAW Halberstadt und Maschinenbau Halberstadt und weitere 6000 bis 7000 bei den 10 nächst kleineren Betrieben zwischen 500 und 1000 Mitarbeitern, wie die Halberstäder Möbelwerke oder den berühmten Halberstädter Würstchen ).
Eine umfangreiche Liste der Unternehmen in Halberstadt findet sich hier.
Wieviel davon überlebt haben, dreimal dürfen Sie raten.
Grob überschlagen und niedrig gerechnet 15000 Arbeitsplätze, es könnten aber auch weit über 25000 gewesen sein, da die vielen Betriebe bis 500 Mitarbeiter nicht gelistet sind. Beim früheren großen Gummiverarbeiter Teguma beispielsweise, sind nur sechs bis acht Arbeitsplätze übriggelieben von einstmal über 300 Mitarbeitern.
Und dabei wird auch noch nicht berücksichtigt, wieviele Mitarbeiter im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und in der Verwaltung weggefallen sind.
Die Polizei auch nicht zu vergessen. Das summiert sich schnell auf bis zu 30000 Arbeitsplätze die nicht mehr existent sind. Bei einer damaligen Einwohnerzahl von ca. 46000 (nur Kernstadt Halberstadt) eine verheerende Bilanz.
Wenn dann das Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) verkündet das Halberstadt über dem Durchschnitt wächst, mag das in Ihrer Rechnung und Datenlage korrekt sein, doch ist das nur die Veränderung 7 Jahre später, weit nach dem Tiefpunkt.
Von nichts auf ein wenig mehr, kann in Prozenten ausgedrückt eine große Zahl werden, wie es in diesem Fall schön zu sehen ist. 3700 neue Arbeitsplätze seit, Achtung! 1998 also über 22 Jahre hinweg gerechnet.
Dabei bleibt zusätzlich unberücksichtigt, dass sich die Stadt mittlerweile durch die vorgenommenden Eingemeindungen, in der Fläche verdoppelt hat, mit weiteren Betrieben die plötzlich mit in die Statistik fallen.
Doch wieviele Einwohner und Arbeitsplätze dort verloren gingen wird nicht berücksichtigt. Selbst die 3700 neuen Arbeitsplätze gelten ja jetzt für den vergrößerten eingemeindeten Bereich. Ebenso die berücksichtigte Einwohnerzahl von 41000. Diese kommt ebenfalls zustande durch erhebliche Eingemeindungen und die addierte Einwohnerzahl und deren Entwicklung in Statistikzeitraum wird ignoriert. Die Kernstadt, deren Einwohnerzahl 1990 mit 45000 https://de.wikipedia.org/wiki/Halberstadt angegeben wurde, hat heute, zieht man die Eingemeindungen ab, zwischen 20000 und wohlwollend gerechnet keine 25000 Einwohner mehr. Eher nur noch 20000.
Ganze Straßenzüge sind unbewohnt, ohne Geschäfte, das Neubaugebiet Ernst-Thälmann-Ring für einige tausend Bewohner wieder vollständig abgerissen. Kurz gesagt, Halberstadt ist arg gebeutelt durch den Wegfall dieser Arbeitsplätze. Drei Fünftel der Bevölkerung haben die Stadt verlassen und weiter abnehmend.
Symbol und Fanal dieser Entwicklung ist der Abriss des Clubhauses, welches Halberstadt noch ein Alleinstellungsmerkmal garantierte, da es in dieser Größe an Veranstaltungsräumen bis Magdeburg und Halle im Umkreis nichts vergleichbares gibt.
Halberstadt hat es sich nicht leisten können und nicht hinbekommen es zu erwerben und zu erhalten, weil kein Geld da ist. Schon der Verkauf durch den Landkreis an Dritte und nicht and die Stadt Halberstadt war ein großer und sehr bedauerlicher Fehler. Doch die Stadt hatte kein Geld damals.
Wenn dann jemand daherkommt und behauptet mit seinen Zahlen, Statistiken und Auswertungen, die Stadt wäre prosperierend und hätte eine außerordentliche Entwicklung hinter sich, ohne vertiefend zu analysieren, dann kommt das den Jubelmeldungen aus DDR Zeiten gleich.
Nur die unmittelbar betroffenen Menschen denken sich, was erzählen oder schreiben die da für einen Unsinn, wenn ich sehen kann wie der tatsächliche gruselige Stand ist.
Wenn Realität und Geschriebenes so dermaßen auseinanderfallen braucht man sich nicht wundern, wenn das Wort Lügenpresse fällt.
Der journalistische Anspruch und fundamentale Grundsatz nach fundierter Recherche und Analyse, die nicht schwer war ging in diesem Fall leider wieder einmal verloren.
Wir stellen das gern als kritischer Beobachter einmal richtig und hoffen für Halberstadt Besserung. Das alte RAW, heute VIS Industrietechnik will seine Mitarbeiterzahl wieder von derzeit 150 auf 250 anheben.
Es ist ein Lichtblick doch es fehlen weitere 15000 Stellen zum Ausgleich. Diese sind derzeit nicht in Sicht.
Halberstadt bleibt vorerst eine abgehängte Mittelstadt, wie viele andere auch.
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